Mit einem Bein im vollen Boot by Holler Ulrike & Teuter Anne

Mit einem Bein im vollen Boot by Holler Ulrike & Teuter Anne

Autor:Holler, Ulrike & Teuter, Anne [Holler, Ulrike & Teuter, Anne]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-01-27T05:00:00+00:00


S.D., Afghanin

Ich heiße S. und bin in Kabul geboren. Obwohl es mir schwerfällt, werde ich hier trotzdem etwas über meine Flucht nach Deutschland und meine Fluchtgründe schreiben.

Seitdem die Russen aus Afghanistan abmarschierten, interessiert sich kaum noch jemand dafür, was in meinem Heimatland passiert. Der Krieg wurde immer schlimmer und ist heute so schlimm wie nie zuvor. Ich verlor in diesem Krieg insgesamt sieben Cousins und Cousinen, meinen Vater, meinen Onkel und viele andere liebe Menschen. Als mir niemand mehr geblieben war (meine Mutter war mit einigen Geschwistern bereits nach Deutschland geflüchtet), entschloß ich mich ebenfalls zur Flucht. Es war keine einfache Reise, und sie kostete mich zehntausend US-Dollar. Insgesamt dauerte die Flucht eineinhalb Monate.

Die letzten vier Monate in Afghanistan habe ich im Keller meines Hauses verbracht, ohne Strom und Wasser. Ich sah, wie die Bomben und Raketen die Häuser vieler unschuldiger Menschen zerstörten. Oft standen die Häuser zwei oder drei Tage lang in Flammen, und keiner versuchte, sie zu löschen. Dann, eines Tages, trafen vier oder fünf Raketen auch mein Haus. Ich hörte, wie die Fensterscheiben und Türen kaputtgingen. Alles wurde dunkel, Rauch und Staub verbreiteten sich im ganzen Haus, so daß ich nicht mehr atmen konnte. Irgendwie gelangte ich in den Garten an die frische Luft. Dann verlor ich das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, erkannte ich mein eigenes Haus nicht mehr wieder. Es sah aus, als wäre es schon lange unbewohnt. Auch im Garten war alles zerstört, nur noch Staub und Steine waren übriggeblieben. Ich wollte weinen, doch mir kamen keine Tränen. Ich hatte dem Tod in die Augen gesehen und hatte alles verloren.

Nun hielt mich nichts mehr — Verwandte hatte ich nicht mehr dort. Entweder waren sie tot, ermordet, oder aber sie waren ins Ausland geflüchtet. Ich hatte noch Geld auf der Bank, wußte aber nicht, wie ich daran kommen sollte. Ich hatte Angst, selbst zur Bank zu gehen. Endlich fand ich jemanden, der gegen Bezahlung (nicht gerade wenig) für mich das Geld abhob. Auf dem Schwarzmarkt tauschte ich dann das Geld in US-Dollar um. Über Delhi wollte ich nach Frankfurt fliegen, weil da bereits ein Teil meiner Familie lebte. Ich ging davon aus, daß ich nach zwei oder drei Tagen Aufenthalt in Delhi, wo ich bei der Deutschen Botschaft ein Visum beantragen mußte, nach Frankfurt fliegen würde. Mit der ersten Maschine, die Kabul nach meinem Entschluß verließ, bin ich nach Delhi geflogen. Wir alle, die Passagiere dieses Fluges, konnten es kaum fassen, dem grausamen Krieg entkommen zu sein. Nach genau drei Stunden sind wir angekommen. Wir fühlten uns irgendwie wieder als freie Menschen und spürten, wie das Leben wieder in uns erwachte. Die erste Nacht verbrachte ich in einem wenig komfortablen Hotelzimmer, für das ich 550 Rupien bezahlte. Am nächsten Morgen fuhr ich zur Deutschen Botschaft, um mein Visum zu beantragen. Ich mußte den ganzen Tag warten, bis ich das ausgefüllte Antragsformular mit dem Paß abgeben konnte. In aller Frühe fuhr ich am kommenden Morgen wieder zur Botschaft und zweifelte nicht einen Moment daran, bald im Besitz des Visums zu sein.



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